Leistungsbeurteilung in prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen (1)

Heidi Niederkofler

November 2020

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Charakteristika von prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen

Pi LVs unterscheiden sich von npi LVs (z. B. Vorlesungen, Repetitorien, Gesamtprüfungen) durch den Prüfungsvorgang und durch die Möglichkeit der Anwesenheitspflicht. Das Studienrecht mit detaillierten Angaben zu diesen beiden Lehrveranstaltungsformaten ist in der Satzung der Universität Wien festgeschrieben. In der konsolidierten Fassung können Sie die jeweils aktuell gültigen Regelungen einsehen: https://satzung.univie.ac.at/studienrecht/ Die studienrechtlichen Informationen sind zudem in einer Checkliste kompakt verfügbar, die entlang des chronologischen Ablaufs einer LV strukturiert ist.

1. Prüfungsvorgang

Im Unterschied zu npi LVs ist die Prüfung bei pi LVs kein singuläres Ereignis: Zum einen erstreckt sich der Prüfungsvorgang über die gesamte Dauer der Lehrveranstaltung (davon ausgenommen sind Nachreichungen von Teilleistungen). Zum anderen besteht er aus mindestens zwei schriftlichen oder mündlichen Teilleistungen, die in einem sachlich angemessenen, fairen und nachvollziehbaren Ausmaß für die Beurteilung heranzuziehen sind. Didaktisch gesehen ist es sinnvoll, eine Lehrveranstaltung nicht als permanenten Prüfungsraum zu konzipieren, sondern auch Lerngelegenheiten zu schaffen, die nicht oder nur gering gewichtet beurteilt werden.[1] Diese beurteilungsfreie(re)n Räume sind die Voraussetzung für eine fehlertolerante Lehr/Lernkultur (zum Thema fehlertolerante Lernkultur siehe auch Feedback durch Lehrende). Anregungen zur Konzeption der Teilleistungen finden Sie hier.

2. Anwesenheit

Eine mögliche Anwesenheitspflicht ist das zweite Merkmal von pi LVs. In der ersten Einheit im Semester besteht Anwesenheitspflicht: Fehlen bei diesem Termin angemeldete Studierende ohne Angabe eines wichtigen Grundes, meldet die Lehrperson diese von der Lehrveranstaltung ab und Personen von der Warteliste rücken auf die freigewordenen Plätze nach (siehe Checkliste für pi LVs). Darüber hinaus darf ein von Ihnen definiertes Ausmaß an Anwesenheit als Mindestanforderung für eine positive Beurteilung der Lehrveranstaltung festgelegt werden. Prinzipiell ist Lehrenden die Anwesenheitsregelung freigestellt, teilweise gibt es jedoch curriculare Vorgaben oder an der Fakultät, am Institut bzw. Zentrum vereinbarte Regelungen. Anwesenheit als solche darf jedoch nicht in die Beurteilung im Sinn von Leistungserfassung einfließen.

Anwesenheit(spflicht) in universitären Lehrveranstaltungen ist ein hochschuldidaktisch kontrovers diskutiertes Thema: Vielfach kreisen die Diskussionen darum, welchen Stellenwert studentische Selbstverantwortung und Autonomie gegenüber der pädagogischen Verantwortung der Lehrenden und einem gewissen institutionellen, wie auch von Lehrenden ausgehenden Kontrollwunsch hat. Vor dem Hintergrund hochschulpolitischer Kontroversen ist 2015 eine Studie erschienen, die studentische Anwesenheit in Lehrveranstaltungen in Hinblick auf Studienerfolg untersucht. Darin wird erstens festgestellt, dass (eine höhere) Anwesenheit zu einer besseren Leistung der Studierenden führt, wovon vor allem schwächere Studierende profitieren, und zweitens, dass kontinuierliche Anwesenheit der Studierenden in Lehrveranstaltungen die Nicht-Bestehens-Rate und Abbruchquoten senkt.[2]

Die Diskussion um Anwesenheit(spflicht) und – damit verbunden – um Autonomie und Kontrolle spricht eine Antinomie an, ein klassisches Spannungsverhältnis im pädagogischen Handeln: Verschiedene Ziele oder Perspektiven werden tendenziell als gleich wichtig bewertet, können aber nicht zugleich oder in gleicher Intensität realisiert werden.[3] Da diese systemimmanenten Widersprüche nicht auflösbar sind, bedeutet ein professioneller Umgang in diesem Kontext die Fähigkeit, die Antinomien bewusst wahrzunehmen und den Umgang damit zu reflektieren.[4]

Überlegen Sie daher bei der Lehrveranstaltungskonzeption, wie viel Anwesenheit nötig ist, damit die Studierenden die Lehrveranstaltung gut absolvieren können. Kommunizieren Sie dies in der Ankündigung im Vorlesungsverzeichnis (u:find) und teilen Sie die Regelung den Studierenden zu Beginn der Lehrveranstaltung mit.

Als Lehrperson stehen Ihnen verschiedene Strategien zum Umgang mit Anwesenheit in der Lehrveranstaltung zur Verfügung. Im Folgenden finden Sie Beispiele, wie Lehrende das Anwesenheits-Thema formulieren können. Übernehmen Sie die Vorlage bei Bedarf und passen Sie diese gegebenenfalls an Ihre jeweilige Situation an.

  • Ansprechen der Thematik Anwesenheit zu Beginn der Lehrveranstaltung samt Erläuterung der Bedeutung für den Lernprozess
    Beispiel: „In dieser Lehrveranstaltung dokumentiere ich nicht, ob Sie bei den einzelnen Einheiten anwesend sind oder nicht: Ich gehe davon aus, dass Sie als mündige Studierende selbstverantwortlich über Ihre Teilnahme entscheiden. Mir ist allerdings wichtig, Ihnen zu sagen, dass eine regelmäßige Teilnahme an der Lehrveranstaltung große Vorteile hat: Erstens wird Ihr persönlicher Lernprozess durch die im Dialog stattfindende Debatte wissenschaftlicher Argumente vorangetrieben, sowohl auf fachlicher Ebene wie auch auf Ebene der Disziplinsozialisation; zweitens werden in der Auseinandersetzung wissenschaftliche Kompetenzen wie Debattier- und Kritikfähigkeit geschult; und drittens regt eine regelmäßige Teilnahme stärker zur Beschäftigung mit den Fachinhalten an und führt tendenziell zu besseren Leistungen.“  
  • Anwesenheitsdokumentation ohne Sanktionen
    Beispiel: „In dieser Lehrveranstaltung dokumentiere ich Ihre Anwesenheit. Da ich jedoch keine Anwesenheitspflicht festgelegt habe, sind mit der Dokumentation keine Sanktionen verbunden, ich betrachte diese vielmehr als Teil meiner eigenen LV-Evaluation. Ich bitte Sie, mir Bescheid zu geben, wenn Sie nicht erscheinen können, damit ich die Lehrveranstaltungseinheiten gut planen kann. Mir ist allerdings wichtig … (siehe oben).“
  •  Anwesenheitsdokumentation mit Sanktionen (wenn ein Mindestmaß an Anwesenheit festgelegt und kommuniziert worden ist)
    Beispiel: „In dieser Lehrveranstaltung dokumentiere ich Ihre Anwesenheit. Da ein Fehlen an (z. B.) drei Terminen zulässig ist, werde ich Sie nach dem zweiten Fehltermin kontaktieren und das Gespräch suchen. Ich bitte Sie, mir Bescheid zu geben, wenn Sie nicht erscheinen können, damit ich die Lehrveranstaltungseinheiten gut planen kann."

Das Bewusstmachen der Relevanz von Anwesenheit für den Lernprozess wie auch die Anwesenheitsdokumentation ohne Sanktionen führen erwiesenermaßen meist zu einer höheren studentischen Anwesenheitsquote.[5] Eine regelmäßige Anwesenheitskontrolle gibt Ihnen die Möglichkeit, einen eventuell anstehenden Abbruch der Lehrveranstaltung zu erkennen und gegebenenfalls frühzeitig zu intervenieren. Da im Schnitt vor allem schwächere Studierende vermehrt abwesend sind, kommen Maßnahmen, die die Anwesenheit verbindlicher gestalten, in erster Linie diesen zugute.

3. Kompetenz- und Studienzielorientierung

Leistungsüberprüfungen sind aufgrund ihrer lernfördernden und lernsteuernden Funktion ein zentraler Bestandteil des studentischen Lernprozesses.[6] John Biggs, der Urheber des Constructive Alignment-Konzepts[7], findet hier klare Worte: „To the teacher, assessment is at the end of the teaching-learning sequence of events, but to the student it is at the beginning.“[8] Viele Studierende orientieren sich in ihrem Lernen an der Leistungsüberprüfung: Will die Lehrperson sicherstellen, dass sich die Studierenden die Studienziele der Lehrveranstaltung aneignen, so gilt es, die Prüfung danach auszurichten. Die beim Constructive Alignment vorgesehene Abstimmung der Studienziele, der eingesetzten Lehr- und Lernmethoden und der Leistungsüberprüfung aufeinander dient Lehrenden als Steuermechanismus, Studierende unterstützt diese Kohärenz bei der Orientierung und damit auch beim Lernen.

Klar definierte Studienziele spielen für die Lehr- und damit auch die Prüfungskonzeption eine zentrale Rolle. Damit kommunizieren Sie Ihre konkreten Erwartungen an die Studierenden; Studierenden selbst dienen die Studienziele der besseren Einordnung und Einschätzung einzelner inhaltlicher Elemente bzw. unterstützen bei der Fokussierung. Hilfreich dabei ist die Orientierung an Kompetenzniveaus, die, ausgehend von den Studienzielen, auch mit den eingesetzten Lehr- und Lernmethoden sowie mit der Leistungsüberprüfung übereinstimmen sollen.

Quellen:

[1] Reis, Oliver. Wenn die Teilleistungen dem Learning-Outcome folgen. Teilleistungen in prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen didaktisch ausrichten. Vortrag im Rahmen der CTL-Lecture am 2. Dezember 2019 am Center for Teaching and Learning der Universität Wien. https://youtu.be/cjhHDv_g4C8 [letzter Zugriff am 23.09.2020].

[2] Schulmeister, Rolf. Abwesenheit von Lehrveranstaltungen. Ein nur scheinbar triviales Problem. Eine Meta-Studie von 300 empirischen Arbeiten. Hamburg 2015. http://rolf.schulmeister.com/pdfs/Abwesenheit.pdf [letzter Zugriff 23.09.2020]

[3] Schlömerkemper, Jörg. „Der antinomische Blick in der Erziehungswissenschaft. ‚Realitische‘ Konzepte in pädagogischer Theorie und Praxis.“ Die Deutsche Schule 9 (2007): 147–171.

[4] Hainschink, Verena, und Rim Abu Zahra-Ecker. „Leben in Antinomien. Bewältigungsdispositionen aus arbeitsbezogenen Verhaltens- und Erlebensmustern.“ Pädagogische Horizonte 2, Nr. 2 (2018): 179–194. https://paedagogische-horizonte.at/index.php/ph/article/view/50/41 [letzter Zugriff am 23.09.2020]

[5] Schulmeister, Abwesenheit von Lehrveranstaltungen, [2].

[6] Müller, Florian H. „Prüfen an Universitäten. Wie Prüfungen das Lernen steuern.“ In Universität in Zeiten von Bologna, herausgegeben von Brigitte Kossek und Charlotte Zwiauer, 121–132. Göttingen: V&R unipress. Vienna University Press, 2012.

[7] Biggs, John. „Enhancing teaching through constructive alignment.“ Higher Education, 32 (1996): 347–364.

[8] Biggs, John. „Aligning teaching for constructing learning.“, 2003. Online verfügbar unter www.researchgate.net/publication/255583992_Aligning_Teaching_for_Constructing_Learning/link/5406ffe70cf2bba34c1e8153/download [letzter Zugriff am 23.09.2020]. 4.

Empfohlene Zitierweise

Niederkofler, Heidi: Leistungsbeurteilung in prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen (1). Charakteristika von prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen. Infopool besser lehren. Center for Teaching and Learning, Universität Wien, November 2020. [https://infopool.univie.ac.at/startseite/pruefen-beurteilen/leistungsbeurteilung-in-pruefungsimmanenten-lehrveranstaltungen/1-charakteristika-von-pruefungsimmanenten-lehrveranstaltungen/]

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